Microsoft word - ap 2-04 nice-2004-03-23.doc

Heinz Rothgang, Dea Niebuhr, Jürgen Wasem, Stefan Greß
Evidenzbasierte Bestimmung des
Leistungskatalogs im Gesundheitswesen?
Das Beispiel des englischen National Institute
for Clinical Excellence (NICE)
Dr. Heinz Rothgang ist wissenschaftlicher Assistent in der Wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung des Zentrums für Sozialpolitik. Dea Niebuhr ist assoziierte am Lehrstuhl für Medizinmanagement der Univer-sität Duisburg-Essen. Prof. Dr. Jürgen Wasem ist der Inhaber des Lehrstuhls für Medizinmanagement der Universität Duisburg-Essen. Dr. Stefan Greß ist wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Medizin-management der Universität Duisburg-Essen. Dieser Beitrag beruht auf den Ergebnissen des von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Forschungspro-jekts „Verfahren und Kriterien zur Bestimmung des Leistungskatalogs in der Gesetzlichen Krankenversi-cherung vor dem Hintergrund internationaler Erfahrungen.“ Herausgeber: Zentrum für Sozialpolitik Universität Bremen - Barkhof -, Parkallee 39 28209 Bremen Tel.: 0421/218-4362 Fax: 0421/218-7540 e-mail: [email protected] http://www.zes.uni-bremen.de ZeS-Arbeitspapiere ISSN 1436-7203 Zusammenfassung
Das englische National Institute for Clinical Excellence (NICE) wird in der bundesdeut- schen Diskussion um die Reform der Institutionen zur Konkretisierung des Leistungskata- logs in der GKV entweder als Vorbild oder als abschreckendes Beispiel genannt. Die Ana- lyse der von NICE angewandten Verfahren und Kriterien zur Bewertung medizinischer Lei-stungen zeigt eine beachtliche Legitimität der Entscheidungen von NICE: Zum einen sind die von NICE angewandten Verfahren transparent und lassen eine breite Repräsentanz der beteiligten Interessengruppen zu, wodurch die Entscheidungen prozedural legitimiert wer-den. Zum anderen berücksichtigen die Entscheidungskriterien die Kosteneffektivität der zu bewertenden Leistungen – wenn solche Informationen zuverlässig vorliegen –, ohne dass Kosteneffektivität das einzige Entscheidungskriterium bleibt. Damit werden die Entschei-dungen vom Ergebnis her legitimiert. Schematische direkte Rationierungseffekte als Folge der von NICE getroffenen Entscheidungen sind nur sehr eingeschränkt identifizierbar. Den-noch wird der Trade-Off zwischen allokativ optimalen Entscheidungen und der Vermei-dung von distributiven Konsequenzen deutlich. Stichworte: Gesetzliche Krankenversicherung; Leistungskatalog; Health Technology As- sessment; Gesundheitsreform; Großbritannien In discussions on development of the institutional framework for decisions on the benefit package of social health insurance in Germany, the English National Institute for Clinical Excellence (NICE) is considered to be either a good or a bad example for reform. Accord-ing to this study, the procedures and criteria applied by NICE for making health care cover-age decisions are legitimate. Procedures are transparent and interest groups are broadly rep-resented. Decision criteria include cost effectiveness of services – albeit only if information on cost effectiveness is available and highly evident. Furthermore, cost effectiveness is not the only criteria for coverage decisions. NICE very rarely induces strong direct rationing, but rather leaves room for discretion. However, the trade-off between maximising alloca-tive efficiency and avoiding distributional consequences becomes apparent. Keywords: Social Health Insurance; Benefits catalogue; Health Technology Assessment; Health Care Reform; United Kingdom 2. Verfahren und Kriterien zur Bewertung medizinischer Leistungen. 6 2.1 Verfahren zur Bewertung von medizinischen Leistungen . 6 2.2 Kriterien zur Bewertung medizinischer Leistungen . 10 3. Legitimität von Verfahren und Kriterien zur Konkretisierung des Anhang: Von NICE bewertete Leistungen (März 2000 - Dezember 2003) . 25 1. Einleitung
Ein wesentlicher Bestandteil der englischen Gesundheitsreform von 1998 ist die Gründung des National Institute for Clinical Excellence (NICE). Dieses Institut hat seit seiner Grün-dung auch Eingang in die deutsche Diskussion gefunden. So war die Gründung eines „Deutschen Zentrums für Qualität in der Medizin“ ein zentraler Gegenstand des von der Bundesregierung geplanten Gesundheitsmodernisierungsgesetzes (GMG). Auch nach Eini-gung mit der Opposition ist die Einführung einer solchen, nunmehr als „Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen“ bezeichneten, Institution Bestandteil des Ge-setzesvorhabens.1 Je nach politischem Standpunkt wird das englische National Institute for Clinical Excellence (NICE) entweder als Vorbild oder als abschreckendes Beispiel für das deutsche Zentrum/Institut genannt. Dessen Protagonisten führen NICE als Vorbild für die evidenzbasierte Bewertung des Leistungskatalogs nach wissenschaftlichen Kriterien an. Kritiker bewerten NICE hingegen als staatsmedizinisches Rationierungsinstrument, das die Wahlfreiheit von Patienten und Ärzten bei Diagnose und Therapie in unzulässiger Weise einenge.2 Ziel dieses Beitrags ist es, vor diesem Hintergrund die bisherige Arbeit von NICE zu analy-sieren und die von NICE angewandten Verfahren und Kriterien zur Bewertung medizini-scher Leistungen im Hinblick auf ihre Legitimität zu beurteilen.3 Zur Beantwortung dieser Fragestellung analysiert der Beitrag zunächst den von NICE durchgeführten Bewertungsprozess, insbesondere im Hinblick auf die gesundheitspolitische Priorisierung, die angewandten Verfahren und die der Entscheidungspraxis zugrunde lie-genden Entscheidungskriterien (Abschnitt 2). In Abschnitt 3 wird die Legitimität der von NICE angewandten Verfahren und Kriterien zur Bewertung medizinischer Leistungen beur-teilt. Legitimität wird in diesem Zusammenhang sowohl aus einer Input-Perspektive (Transparenz, Partizipation und Akzeptanz) als auch aus einer Output-Perspektive (alloka-tive und distributive Effekte sowie Konsistenz und Effektivität der Verfahren) heraus be- Sowohl in den diversen Regierungsentwürfen als auch im gemeinsamen Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung der Gesetzlichen Krankenversicherung der Fraktionen SPD, CDU/CSU und Bünd-nis 90/Die Grünen (Stand: 8.9.2003) werden die Einzelheiten in den neu einzuführenden §§ 193 a ff. SGB V geregelt. Vgl. Niebuhr et al. (2003) für eine Analyse der bislang in Deutschland mit den entsprechenden Entscheidungen betrauten Gremien. Vgl. dazu ausführlich die kontroverse Diskussion über das deutsches Zentrum für Qualität in der Medizin in der Anhörung des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung des Deutschen Bundestags am 23.6.2003 in Berlin (Pressemitteilung des Deutschen Bundestags Nr. 134 vom 23.6.2003; Download unter http://www.bundestag.de/presse/hib/2003/2003_134/01.html). Die ebenfalls von NICE durchgeführte und auch für das Deutsche Zentrum sowie das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen geforderte Entwicklung von Leitlinien ist hingegen nicht Gegenstand dieses Beitrags. trachtet. Auf der Grundlage der Analyse der von NICE angewandten Verfahren und Krite- rien und deren Beurteilung wird abschließend diskutiert, inwieweit NICE eher als Vorbild oder eher als abschreckendes Beispiel für die Konkretisierung des Leistungskatalogs in der Gesetzlichen Krankenversicherung Deutschlands anzusehen ist (Abschnitt 4). 2. Verfahren und Kriterien zur Bewertung medizinischer Leistungen
NICE soll den klinischen Nutzen und die Kosteneffektivität der vom englischen Gesund-heitsministerium zur Bewertung vorgeschlagenen Leistungen abschätzen.4 Dazu sollen sek-torübergreifend sowohl neue als auch bestehende medizinische Leistungen (Arzneimittel, Medizinprodukte, diagnostische und therapeutische Behandlungs- und Untersuchungsme-thoden sowie Maßnahmen der Präventionsmedizin) bewertet werden. Das Institut erarbeitet auf der Grundlage des Bewertungsprozesses eine Richtlinie, ob im National Health Service (NHS) die betreffende medizinische Leistung uneingeschränkt für die gesamte Bevölke-rung, eingeschränkt für bestimmte Indikationen und/oder für bestimmte Patientenpopulati-onen oder gar nicht finanziert werden soll. In diesem Abschnitt werden sowohl die Verfah-ren zur Bewertung (2.1) als auch die Bewertungskriterien und die Entscheidungspraxis diskutiert (2.2). Verfahren zur Bewertung von medizinischen Leistungen
Das Verfahren der Leistungsbewertung ist in einen Zyklus von sechs Phasen eingeteilt (Ab-bildung 1). Da NICE schon aus Kapazitätsgründen nicht alle Leistungen bewerten kann,5 werden in Phase I die von NICE zu bewertenden Leistungen durch das englische Gesund-heitsministerium identifiziert und priorisiert. Das Gesundheitsministerium versucht – nicht zuletzt begleitet durch ein „Frühwarnsystem“ (horizon scanning) – medizinische Innovatio-nen systematisch zu erfassen, bevor sie vollständig in den Markt diffundiert sind. Die Prio-risierung der von NICE zu bewertenden Leistungen erfolgt dann durch das Gesundheitsmi-nisterium nach folgenden Leitfragen, die jeweils noch weiter differenziert und operationali-siert werden (Department of Health 2002): NICE ist gegenüber dem englischen Gesundheitsministerium und der Walisischen Nationalver-sammlung rechenschaftspflichtig. Aus Gründen der Vereinfachung bezieht sich der Text aus-schließlich auf England. Für Schottland ist das Scottish Intercollegiate Guidelines Network (SIGN) zuständig, das aber ausschließlich klinische Leitlinien erarbeitet und daher in diesem Beitrag nicht weiter diskutiert wird. Der Mitarbeiterstab von NICE besteht aus lediglich rund 40 Vollzeitbeschäftigten. Hinzu kommen sieben ehrenamtliche und vier hauptamtliche Direktoren, die ebenso vom Gesundheitsminister er-nannt werden wie der Vorsitzende. 2002/03 verfügte NICE über ein Budget von rund 15 Millionen £. Allerdings kann NICE auf eine – aus Steuermitteln – ausgebaute Infrastruktur an Universitäts-einrichtungen zurückgreifen, die Health Technology Assessment- (=HTA)-Reports für das Institut verfassen. Weist die medizinische Leistung einen bedeutenden Gesundheitsnutzen auf? Wirkt sich die Leistung bedeutend auf andere gesundheitspolitische Maßnahmen und Ziele aus (beispielsweise Reduzierung sozialer Ungleichheiten)? Hat die Leistung einen bedeutenden Einfluss auf die Ressourcen des NHS (unter fi- nanziellen, materiellen und sozialen Gesichtspunkten)? Ist NICE in der Lage, eine Richtlinie zu erarbeiten? Ist in Abwesenheit einer solchen Richtlinie eine Kontroverse über die Interpretation oder Bedeutung der vorhandenen Evidenz zur Wirksamkeit und Kosteneffektivität wahrscheinlich? Abbildung 1:
Zyklus der Leistungsbewertung
Vor einer Entscheidung konsultiert das Gesundheitsministerium Verbände der Leistungs-erbringer, Patientenorganisationen und Hersteller. Pro Jahr übermittelt das Ministerium rund 25 medizinische Leistungen zur Bewertung an NICE. Im Mittelpunkt von Phase II steht die Abschätzung von Nutzen und Kosteneffektivität der betreffenden Leistung. NICE fordert in der Regel dazu einen Health Technology Assess-ment (HTA)-Report an. Dazu wird in erste Linie das HTA-Netzwerk an Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen genutzt, das überwiegend aus Mitteln des Bildungs- und Wissenschaftsetats finanziert wird. Nach Vorlage des HTA-Reports wird allen Betroffenen (Hersteller, Ärzteverbände, Patientenorganisationen, Wissenschaftler sowie Vertretern des Gesundheitsministeriums) in einem umfangreichen Konsultationsprozess Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Diese Stellungnahmen werden gemeinsam mit dem HTA-Report und den Zusammenfassungen der Herstellerstudien in einem Evaluationsbericht zusam- mengefasst und an den für die Bewertung zuständigen Bewertungsausschuss weitergeleitet. In Phase III findet die eigentliche Bewertung der Leistungen durch den Bewertungsaus-schuss von NICE statt. Dieser bewertet für die jeweilige medizinische Leistung die Impli-kationen für die klinische Praxis vor dem Hintergrund der vorliegenden Evidenz und spricht Richtlinien für die Finanzierung im NHS aus. Der Bewertungsausschuss (Appraisal Committee) besteht aus 23 Mitgliedern, die für drei Jahre vom NICE-Direktorium ernannt werden. Die Arbeit im Bewertungsausschuss ist eh-renamtlich. In dem Ausschuss sind ärztliche und nicht-ärztliche Leistungserbringer, (Arz-neimittel-)Hersteller, Patientenorganisationen, Manager der regionalen Gesundheitsbehör-den und Wissenschaftler repräsentiert.6 Die Vertreter der Leistungserbringer und Patienten-vertreter werden von ihren eigenen Verbänden und Organisationen vorgeschlagen. Von Beginn des Verfahrens bis zur ersten Sitzung des Bewertungsausschusses vergehen rund 40 Wochen. In dieser ersten – öffentlichen – Sitzung kommt der Bewertungsausschuss zu einer vorläufigen Bewertung der Leistung, insbesondere auf der Grundlage des HTA-Reports und der von den Beteiligten eingereichten Evidenz. Diese vorläufige Bewertung wird allen Beteiligten noch einmal zur Stellungnahme zugesandt und auf der Website des Instituts veröffentlicht. Auf der zweiten – nicht öffentlichen – Sitzung des Bewertungsaus-schusses zu der untersuchten Leistung werden die eingegangenen Stellungnahmen noch einmal beraten und die Evidenz zur Wirksamkeit und Kosteneffektivität der medizinischen Leistung abschließend bewertet. Ein Einspruch gegen diese Bewertung ist innerhalb von 15 Tagen möglich. Das (interne) Einspruchsverfahren ist ein integraler Bestandteil des Bewertungsverfahrens und muss auf einem von drei Gründen basieren (National Institute for Clinical Excellence 2001): 1. Das Institut hat nicht fair und in Übereinstimmung mit den Grundsätzen des Bewer- 2. Das Institut hat eine Empfehlung vorbereitet, die im Lichte der eingereichten Evi- 3. Das Institut hat seine Befugnisse überschritten. Der Beschwerdeausschuss (appeal panel) besteht aus fünf Mitgliedern, die von NICE er-nannt werden und bis zu diesem Zeitpunkt nicht im Bewertungsverfahren involviert wa-ren.7 Bis Anfang 2003 führte der Vorsitzende von NICE zugleich auch den Vorsitz des Be- Zur derzeitigen Zusammensetzung des Bewertungsausschusses vgl. http://www.nice.org.uk/article.asp?a=392 Bei diesen Mitgliedern handelt es sich um mindestens ein Mitglied des Institutes als Vorsitzenden, mindestens ein Mitglied aus den NHS-Organisationen, ein Mitglied aus der Industrie oder aus dem klinischen Bereich und ein Mitglied der Patienten- oder Pflegeorganisationen. schwerdeausschuss. Die Unabhängigkeit des Beschwerdeausschusses wurde deswegen nachdrücklich angezweifelt (House of Commons - Health Committee 2002). Inzwischen hat der Vorsitzende von NICE nur noch das Recht, angehört zu werden. In den 26 bisherigen Einspruchsverfahren – mehrheitlich von Arzneimittelherstellern ange-strengt – wurden überwiegend die Gründe 1 und 2 geltend gemacht. Der Beschwerdeaus-schuss hat rund drei Viertel der Einsprüche verworfen, ein Viertel der Fälle wurden dem Bewertungsausschuss zur erneuten Bewertung eingereicht. Eine weitere Möglichkeit zum Einspruch gegenüber NICE besteht nicht mehr. Eine juristische Überprüfung beim Obers-ten Gerichtshof wäre aber innerhalb von drei Monaten möglich.8 Insgesamt vergehen vom Beginn der Phase II bis zum Ende der Phase III gewöhnlich 12 Monate (ohne Einspruch) bis 14 Monate (mit Einspruch). NICE selbst übernimmt auch eine zentrale Rolle bei der Verbreitung der Entscheidungen (Phase IV). So werden die Entscheidungen des Bewertungsausschusses werden Ende der Einspruchsfrist bzw. nach der Ablehnung eines Einspruchs in einer Ärzte- und einer Patien-tenversion auf der Internetseite des Instituts veröffentlicht. In Phase V werden die Richtlinien auf der Ebene der Leistungserbringung umgesetzt. Die individuelle Verantwortung der Therapie- und Behandlungsmöglichkeiten ist den Leis-tungserbringern zwar unbenommen, sie müssen von der Richtlinie abweichende Entschei-dungen aber angemessen dokumentieren. Auf regionaler Ebene müssen darüber hinaus in-nerhalb von drei Monaten nach einer Richtlinie von NICE die erforderlichen Ressourcen für die entsprechende Leistung bereitgestellt werden. NICE schätzt, dass durch die Richtli-nien jährlich 200 bis 250 Millionen £ zusätzliche Ausgaben entstehen (Raftery 2001). Die-ser Betrag entspricht etwa 0,5% der gesamten NHS-Ausgaben. Allerdings wird das Budget in aller Regel nicht um die durch die NICE-Richtlinien ausgelösten Ausgabeneffekte er-höht. Empfiehlt NICE eine Leistung bedeutet dies – aufgrund knapper und gegebener Bud-gets – nicht unbedingt, dass diese Leistungen auch für alle Betroffenen bereitgestellt wer-den.9 Wird die Leistung dagegen nicht empfohlen und hat diese Entscheidung auch im Be-rufungsverfahren Bestand, kommt sie im NHS in aller Regel nicht mehr zum Einsatz. In Phase VI wird der Einfluss der NICE-Richtlinien auf die klinische Praxis überwacht. So wird beispielsweise die Verschreibungsquote eines Arzneimittels vor und nach Veröffentli-chung einer Richtlinie gemessen. Die Commission for Health Improvement (CHI) über-wacht darüber hinaus die Umsetzung der von NICE ausgesprochenen Richtlinien in der Praxis. Die Kommission überprüft dazu alle drei bis vier Jahre sämtliche Krankenhäuser und regionalen Gesundheitsbehörden. Vgl. Decision of the Appeal Panel, 27th June 2001 “Cox II-Inhibitors in the treatment of os-teoarthritis and rheumatoid arthritis”, http://www.nice.org.uk/pdf/coxiiappealdecision.pdf. Kommt die neue Leistung zum Einsatz, entsteht für die regionalen Gesundheitsbehörden in aller Regel zugleich die Notwendigkeit, andere Leistungen zu kürzen. Kriterien zur Bewertung medizinischer Leistungen
NICE hat von März 2000 bis Dezember 2003 insgesamt 73 medizinische Leistungen be-wertet. Der Schwerpunkt der Leistungsbewertung liegt eindeutig bei Arzneimitteln: In 47 der 73 Leistungsbewertungen (64,4 Prozent) wurden Arzneimittel auf ihre Wirksamkeit und Kosteneffektivität geprüft. Die Beschlüsse können in drei Kategorien aufgeteilt werden (Rawlins 1999): a) für alle zugelassenen Indikationen oder c) nur für spezielle Patientensubgruppen empfohlen. B: Die Leistung sollte nur im Kontext begleitender klinischer Studien eingesetzt C: Die Leistung wird aus Gründen der nicht oder unzureichend vorhandenen Evi- denz zur klinischen Effektivität und/oder Kosteneffektivität nicht empfohlen. Tabelle 1: Ergebnis der Bewertungen durch NICE Quelle: Auswertung der Entscheidungen des Bewertungsausschusses von NICE, abrufbar unter: http://www.nice.org.uk/catta1.asp?c=153. In der Praxis hat NICE 66 Entscheidungen der Kategorie A getroffen (Tabelle 1). Davon wurden 20 Leistungen für alle zugelassenen Indikationen empfohlen. Für weitere 46 Leis-tungen wurden Einschränkungen hinsichtlich der Indikationen bzw. der Patientensubgrup-pen vorgesehen. Fünf Leistungen dürfen nur im Rahmen klinischer Versuche erprobt wer-den (Kategorie B) und zwei Leistungen hat der Bewertungsausschuss vollständig aus der Finanzierung durch den NHS ausgeschlossen (Kategorie C).10 Insgesamt hat NICE damit 10 Zu diesen ausgeschlossenen Leistungen zählte auch Beta-Interferon bei Multipler Sklerose, deren Finanzierung aber vom Gesundheitsministerium – abweichend von der NICE-Empfehlung - wei- weniger als 10 Prozent aller bewerteten Leistungen nicht zur Finanzierung empfohlen (Ka- tegorie B und C), bei Arzneimitteln sinkt dieser Wert sogar auf unter 5 Prozent ab. Schon dies deutet darauf hin, dass NICE nicht in erster Linie ein Instrument zur schematischen Rationierung ist. In 63 Prozent aller Bewertungen hat NICE hingegen eine in Bezug auf Pa-tientengruppen und/oder Indikation eingeschränkte Empfehlung abgegeben. Die einge-schränkte Empfehlung ist damit die dominierende Bewertung des Instituts. Der Bewertungsausschuss soll die jeweiligen Leistungen im Hinblick auf Nutzen, Kosten und deren Verhältnis zueinander (= Kosteneffektivität) bewerten. In den Worten von NICE11: „Its [NICE] task is to assess the evidence of all the clinical and other health related benefits of an intervention. This will include impact on quality of life, relief of pain or disability as well as any impact on likely length of life; to estimate the associated costs and to reach a judgement as to whether, on balance, the intervention can be recommended.” Generell versucht der Bewertungsausschuss dabei auf der Grundlage der vorhandenen Evi-denz, die Kosteneffektivität oder – wenn zu den Kosten keine Informationen vorliegen – den Nutzen der jeweiligen Leistungen durch die Einschränkung der Empfehlung auf be-stimmte Patientensubgruppen bzw. bestimmte Indikationen zu optimieren.12 Insbesondere die Beschränkung des Einsatzes von Arzneimitteln selbst bei zugelassenen Indikationen löst regelmäßig das Beschwerdeverfahren aus – in der Regel durch die betroffenen Hersteller. NICE empfiehlt den Herstellern ausdrücklich, Studien zur Kosteneffektivität der jeweiligen Leistungen durchzuführen und vorzulegen, um damit die Wahrscheinlichkeit einer positi-ven Empfehlung zu erhöhen. Darüber hinaus haben die mit der Entwicklung der HTA-Reports beschäftigen Forschungsgruppen den expliziten Auftrag, auch Studien zur Kosten-effektivität der jeweiligen Leistung zu ermitteln. Eine Auswertung der bisherigen Berichte des Bewertungsausschusses ergibt, dass für 55 (=75%) der bewerteten Leistungen Informa-tionen zur Kosteneffektivität vorlagen. Soweit solche Informationen vorliegen, zieht der Bewertungsausschuss deren Ergebnisse (in der Regel Kosten pro QALY13 oder Kosten pro gewonnenem Lebensjahr) in seine Entscheidungsfindung mit ein. Liegen keine entspre-chenden Studienbelege vor, wird überwiegend auf der Grundlage der vorliegenden Evidenz zur Wirksamkeit der betreffenden Leistung entschieden. terhin für die Neu- und Weiterbehandlung der MS-Patienten im Rahmen von Forschungsstudien er-laubt wurde. 11 Vgl. z.B. NICE issues guidance on hearing aids http://www.nice.org.uk/article.asp?a=6965. 12 Eine weitere Beschränkung kann in der Empfehlung liegen, die Leistung ausschließlich in einer Zweittherapie (Second-Line Treatment) anzuwenden. 13 QALYs (= quality adjusted life years) sind ein Outcome-Maß, bei dem die gewonnene Lebenszeit zugleich mit einem Qualitätsindex bewertet wird, um so beide Dimensionen – Lebenserwartung und Lebensqualität – zu berücksichtigen. Interessant ist nun die Frage, welche Rolle die Kosteneffektivität bei den Entscheidungen tatsächlich spielt. Abbildung 2 zeigt für die 33 Entscheidungen, für die entsprechende Wer-te vorliegen,14 die Kosten pro QALY für die jeweilige Methode und die Einstufung durch NICE. Abbildung 2: Empfehlungen von NICE nach Kosteneffektivität
Outcome-Kategorien:1 = A ohne Einschränkung2 = A mit Einschränkung3 = B oder C ie
r
o
teg
a

e-K
m
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tc
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1
Kosten in GBR pro QALY
Quelle: Auswertung der Entscheidungen des Bewertungsausschusses von NICE, abrufbar unter: http://www.nice.org.uk/catta1.asp?c=153. Anmerkung: Für Leistungen, bei denen ein Intervall der Kosten pro QALY oder gewonnenem Lebensjahr angegeben war, wurde für diese Auswertung der Mittelwert angenommen. Die Abbildung widerlegt zunächst die in der Diskussion zum Teil geäußerte Behauptung, dass Methoden mit Kosten von mehr als 30.000 £ pro QALY von NICE pauschal abge-lehnt, während „billigere“ uneingeschränkt empfohlen würden.15 Dass eine hohe Kostenef-fektivität keine Garantie für eine uneingeschränkte Empfehlung ist und eine niedrige Kos-teneffektivität nicht automatisch zur Ablehnung der jeweiligen Leistung führt, bestätigt 14 Die Angaben zur Kosten-Effektivität von 22 weiteren Leistungen konnten nicht berücksichtigt werden. Bei 13 Entscheidungen wurden die Kosten nicht pro QALY, sondern pro gewonnenem Lebensjahr bzw. pro progressionsfreiem Lebensjahr ausgewiesen, bei 9 weiteren Leistungen war die Qualität der Angaben so gering, dass NICE sie als nicht entscheidungsrelevant eingestuft und dann nicht weiter berücksichtigt hat. 15 Auch NICE selbst verneint diese Grenze strikt (National Institute for Clinical Excellence 2002). auch eine frühere Analyse der NICE-Richtlinien durch ein vom britischen Verband der Arz-neimittelhersteller finanziertes Forschungsinstitut (Towse/Pritchard 2002). Die in diesem Beitrag vorgenommene Auswertung der entsprechenden Entscheidungen zeigt aber auch, dass die Wahrscheinlichkeit für eine ablehnende Entscheidung (Kategorie B oder C) mit sinkender Kosteneffektivität (bzw. steigenden Kosten pro QALY bzw. pro gewonnenem Lebensjahr) ansteigt. Umgekehrt steigt die Wahrscheinlichkeit für eine uneingeschränkte Empfehlung mit steigender Kosteneffektivität (bzw. sinkenden Kosten pro QALY oder ge-wonnenem Lebensjahr). So liegen die Kosten pro gewonnenem QALY bei allen Methoden, deren Einsatz ohne Einschränkungen befürwortet wird, unterhalb von 20.000 £, während umgekehrt alle Leistungen, die abschlägig beschieden wurden (Kategorie B und C), Kosten pro QALY von mehr als 30.000 £ aufweisen (Abbildung 3).16 Abbildung 3: Entscheidungshäufigkeit nach Kosteneffektivität
relative E
Kosten pro QALY
Quelle: Auswertung der Entscheidungen des Bewertungsausschusses von NICE, abrufbar unter: http://www.nice.org.uk/catta1.asp?c=153. Anmerkung: Für Leistungen, bei denen ein Intervall der Kosten pro QALY oder gewonnenem Lebensjahr angegeben war, wurde für diese Auswertung der Mittelwert angenommen. Der Einfluss der Kosteneffektivität kann durch eine logistische Regression der Angaben zu den Kosten pro QALY auf die Entscheidung von NICE abgeschätzt werden. Da eine logis-tische Regression eine dichotome Einteilung der abhängigen Variablen (hier: der NICE-Entscheidung) voraussetzt, wird im Folgenden sowohl das Verhältnis der Empfehlung ohne 16 Jeweils bezogen auf die 33 Fälle, bei denen in Kosten pro QALYs gemessene Angaben zur Kos- Einschränkungen zu allen anderen Entscheidungen (Modell 1) als auch das der Entschei-dungen der Kategorie A insgesamt (mit und ohne Einschränkungen) zu den Entscheidungen der Kategorie B und C (Model 2) untersucht. Die logistische Regression zeigt, dass ein sig-nifikanter Einfluss der Kosteneffektivität auf die Entscheidung von NICE unterstellt werden kann.17 Eine aus der Regressionsgleichung resultierende Umrechnung18 ergibt die in Ab-bildung 4 enthaltenen bedingten Wahrscheinlichkeiten dafür, dass bei einem gegebenen Kostenwert pro QALY eine uneingeschränkte Empfehlung (Kategorie A ohne Einschrän-kung) bzw. eine (uneingeschränkte oder eingeschränkte) positive Empfehlung (Kategorie A insgesamt) abgegeben wird. Abbildung 4:
Einfluss der Kosteneffektivität auf die NICE-Entscheidung
(Ergebnis der logistischen Regression)
eit
k
0,7
lich 0,6
ein 0,5
rsch
h
0,3
Wa 0,2
Kosten pro QALY in Tsd. £
Wahrscheinlichkeit für A ohne Einschränkung Quelle: Auswertung der Entscheidungen des Bewertungsausschusses von NICE, abrufbar unter: http://www.nice.org.uk/catta1.asp?c=153. Anmerkung: Für Leistungen, bei denen ein Intervall der Kosten pro QALY oder gewonnenem Lebensjahr angegeben war, wurde für diese Auswertung der Mittelwert angenommen. Erkennbar ist auch in Abbildung 4, dass – auf Basis der bislang vorliegenden Entscheidun-gen – die Wahrscheinlichkeit für eine uneingeschränkte Empfehlung mit sinkender Kosten-effektivität sehr schnell sinkt. Bereits bei Kosten pro QALY von mehr als 20.000 £ ist diese Wahrscheinlichkeit bei unter 10%. Andererseits besteht selbst bei sehr „teuren“ Leistungen, 17 Die Irrtumswahrscheinlichkeit für diese Aussage liegt jeweils bei 9% (Modell 1) bzw. 2 % (Modell 2). Die Regressionsgleichungen auf den Logit lauten dabei: y = -0,00013 x + 0,2245 (Modell 1) bzw. y = -0,00016 x + 8,4432 (Modell 2). 18 Die Wahrscheinlichkeiten (p) ergeben sich für einen gegebenen Kostenwert x pro QALY gemäß der Formel p = exp (b) / (1 + exp (b)), wobei b für den Wert des Logit an der Stelle x steht. d.h. etwa Leistungen bei denen 60.000 £ für den Gewinn eines QALY eingesetzt werden, immer noch eine Wahrscheinlichkeit von fast 25% für eine eingeschränkte Empfehlung. Die Kosteneffektivität beeinflusst somit vor allem das Ausmaß der Einschränkungen mit denen eine Leistung empfohlen wird. Die Tatsache, dass NICE sich nicht schematisch an der Kosteneffektivität orientiert, dürfte insbesondere zwei Ursachen haben: Zum einen verfolgt der Bewertungsausschuss nicht ausschließlich das Ziel, die QALYs zu maximieren; vielmehr gehen auch andere gesund-heitspolitische Ziele in die Bewertung ein (Birch/Gafni 2002). Zum anderen liegen ökono-mische Evaluationen teilweise gar nicht vor oder die gesundheitsökonomischen Evaluatio-nen weisen starke methodische Mängel auf, das NICE sie nicht berücksichtigt. Insbesonde-re die Studien der Arzneimittelhersteller variieren stark in den jeweiligen Annahmen, in der Wahl der Methoden sowie in den Ergebnissen der Sensitivitätsanalysen und der eingenom-menen Perspektive, so dass NICE einen Vergleich der Studien für nur sehr eingeschränkt möglich hält und schon deshalb in solchen Fällen die Kosteneffektivität nicht berücksichti-gen kann. 3. Legitimität von Verfahren und Kriterien zur Konkretisierung des
Leistungskatalogs
Der Begriff „Legitimität“ wird in der vorliegenden Analyse anhand des aus der Tradition der funktionalistischen Demokratietheorien stammenden Input-Output-Modells gefüllt (Scharpf 1992). Input-orientierte Demokratietheorien betonen die politische Beteiligung der Bürger an Entscheidungen als Maßstab für die Legitimität der Entscheidungsverfahren. Entscheidungen sind demnach dann legitim, wenn sie im Rahmen eines demokratischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses zustande gekommen sind.19 Output-orien-tierte Demokratietheorien bewerten die Legitimität der Entscheidungsfindungsprozesse auf der Performanzebene nach der sachlichen Qualität der Entscheidungen und damit der Leis-tungsfähigkeit der Politik. Effektive politische Programme besitzen demnach insoweit Legi-timität, als sie dem Allgemeinwohl dienen und den Kriterien der Verteilungsgerechtigkeit genügen (Scharpf 2000). In der hier gewählten normativen Perspektive müssen kollektiv verbindliche Entscheidungen – wie die Empfehlungen von NICE hinsichtlich neuer Unter-suchungs- und Behandlungsmethoden – somit entweder „input-orientiert“ durch die authen-tische Zustimmung der betroffenen Gesellschaftsmitglieder und/oder „output-orientiert“ durch ihren effektiven Bezug zum Gemeinwohl legitimiert sein. Im Kontext dieses Beitrags ist damit aus der Input-Perspektive zu fragen, ob die Arbeit von NICE Unterstützung und Zustimmung aus den Reihen der Betroffenen findet. Aus der Output-Perspektive ist zu fra- Vgl. Syrett 2003 für ein ähnliches Bewertungsraster. gen, welche Auswirkungen die Entscheidungen zu Leistungsein- und Leistungsausschlüs-sen haben.20 Input-Perspektive
Unabhängig vom ihrem sachlichen Gehalt können die Entscheidungen von NICE dadurch eine hohe Legitimität aufweisen, dass • der Prozess der Priorisierung der zu bewertenden medizinischen Leistungen, die Ent- scheidungsfindung selbst und die Konsequenzen der Entscheidung für die Betroffenen transparent sind, • die Betroffenen in der Entscheidungsfindung in angemessener Art und Weise partizi- • die angewandten Verfahren und Kriterien von den Betroffenen akzeptiert sind. Aus der Input-Perspektive sind demnach die Kriterien Transparenz, Partizipation und Ak-zeptanz zu untersuchen.21 Transparenz
Die Frage nach der Transparenz kann sich erstens auf die der Entscheidung zugrunde lie-genden Informationen, zweitens auf die Entscheidungskriterien sowie deren relative Bedeu-tung und drittens auf die Nachvollziehbarkeit der jeweiligen Darstellung beziehen. NICE bemüht sich erfolgreich um eine verständliche Darstellung der entscheidungsrelevan-ten Informationen, eine hohe Verständlichkeit der Richtlinien selbst und um Nachvoll-ziehbarkeit der Entscheidungsgründe, die zu den Richtlinien geführt haben. Nicht veröffent-licht werden lediglich die Vorlagen der Hersteller, die aus kommerziellen Gründen vertrau-lich behandelt und – Zusammenfassungen – im gesamten Bewertungsprozess nicht veröf-fentlicht werden (House of Commons - Health Committee 2002). Die Informationen werden in unterschiedlicher Art und Weise für unterschiedliche Nutzer-gruppen (Patienten, Leistungserbringer) aufbereitet, so dass auch Patienten die Inhalte der Richtlinien verstehen können. Die Mitglieder des Bewertungsausschusses und sämtliche Ansprechpartner der Beteiligten werden in jeder Richtlinie namentlich genannt. Darüber hinaus publiziert das Gesundheitsministerium die Prioritätenliste für zu bewertende Leis-tungen. Die Patienten können sich nicht nur informieren, welche Leistungen in näherer Zu-kunft bewertet werden, sondern können auch Leistungen selbst vorschlagen. Die von NICE Die gleichen Beurteilungskriterien wurden bereits auf die Verfahren und Kriterien zur Konkretisie-rung des Leistungskatalogs in der Gesetzlichen Krankenversicherung Deutschlands, der Schweiz und des US-Bundesstaates Oregon angewandt (Niebuhr et. al. 2004) angewandt. Vgl. Europäische Kommission 2001 für ein ähnliches Kategorienschema, das hinsichtlich der In-put-Perspektive auf Offenheit, Partizipation und Verantwortlichkeit verweist. bereit gestellten Informationen werden zudem von den Massenmedien aufgegriffen, so dass insgesamt ein hohes Maß an Transparenz gegeben ist. Transparent sind grundsätzlich auch die Entscheidungskriterien: Wirksamkeit im Sinne der Auswirkungen auf die gesundheitsbezogene Lebensqualität, die Verringerung von Schmer-zen oder Behinderungen sowie die Lebenserwartung. Bei der Abwägung zwischen diesen Kriterien im Einzelfall kommt allerdings zwangsläufig ein subjektives Element zum Tra-gen. Dies ist jedoch kaum vermeidbar, und NICE gelingt es zumindest im hohen Maße, die im Einzelfall für entscheidend gehaltenen Gründe transparent zu machen. Partizipation
NICE strebt eine umfassende Partizipation aller Beteiligten einschließlich von Patienten-vertretern und Repräsentanten der Industrie bei dem gesamten Bewertungsverfahren an. Im Grundsatz wird diese Partizipation auch erreicht. Die von einer Entscheidung betroffenen Interessengruppen haben umfangreiche Anhörungsrechte in einem mehrstufigen Konsulta-tionsprozess. Im Bewertungsausschuss selbst sind neben Leistungserbringern, NHS-Ver-antwortlichen und Wissenschaftlern auch Patienten- und Industrievertreter repräsentiert. Al-lerdings stellt sich auch hier – wie bei allen Versuchen, Patientenvertreter an kollektiven Entscheidungsprozessen im Gesundheitswesen zu beteiligen – die Frage, inwieweit und auf welche Art die Patientenvertreter rekrutiert und die Gefahr von Verflechtungen mit der In-dustrie begrenzt werden kann. So wurden Schwächen bei der Identifizierung von geeigne-ten Patientenvertretern ebenso thematisiert wie Fehlgriffe bei der Auswahl der kompeten-testen Ansprechpartner bei den Leistungserbringern (House of Commons - Health Committee 2002). Akzeptanz
Die Akzeptanz von NICE bei den Leistungserbringern, bei den regionalen Gesundheitsbe-hörden und nicht zuletzt bei den Patienten hängt in erster Linie von der Glaubwürdigkeit der von NICE veröffentlichten Richtlinien ab (House of Commons - Health Committee 2002: 8ff.). Diese Glaubwürdigkeit ist um so höher, je besser die technische Qualität der Richtli-nien ist, je mehr Evidenz berücksichtigt wird und je mehr Betroffene im Rahmen der Ent-scheidungsfindung nach ihrer Meinung gefragt werden (House of Commons - Health Com-mittee 2002). Der umfangreiche Konsultationsprozess, mit dem NICE eine Vielzahl von Akteuren zu identifizieren und zu kontaktieren versucht, bietet gute Voraussetzungen dafür, eine möglichst umfassende Evidenz zusammenzubringen und eine hohe Qualität der Richt-linien zu gewährleisten. Die Erfahrungen von NICE zeigen allerdings auch, dass schon wenige nicht umfassend fun-dierte Richtlinien ausreichen, um die Glaubwürdigkeit der für die Konkretisierung des Leistungskatalogs zuständigen Institution nachhaltig zu erschüttern und damit die Akzep-tanz bei den Akteuren des Systems zu vermindern. Im Oktober 1999 veröffentlichte NICE eine „Schnellrichtlinie“ (rapid guidance) zum Grippemittel Relenza (Wirkstoff Zanamivir, Hersteller Glaxo Wellcome, heute GlaxoSmithKline). In der Richtlinie wurde der Einsatz von Relenza im NHS als nicht kosteneffektiv abgelehnt. Von ärztlichen Leistungserbrin-gern und den regionalen Gesundheitsbehörden wurde diese Richtlinie als sachgerecht un-terstützt, während Glaxo Wellcome und andere Arzneimittelhersteller die Richtlinie erwar-tungsgemäß ablehnten. Im November 2000 veröffentlichte NICE auf der Basis neuer vom Hersteller vorgelegter Evidenz eine aktualisierte Richtlinie, in der der Einsatz von Relenza für gefährdete Patienten empfohlen wurde. In einer vom Verbraucherverband im Februar 2001 vorgelegten und von den Massenmedien aufgegriffenen Studie wurden technische und methodische Mängel der überarbeiteten Richtlinie offen gelegt. Vor dem Hintergrund dieser Kritik hat der vorangegangene Rich-tungswechsel in den Richtlinien zu Relenza vor allem bei den im NHS tätigen Hausärzten sowie bei den regionalen Gesundheitsbehörden die Glaubwürdigkeit von NICE nachhaltig beschädigt, weil der Eindruck des „Einknickens“ unter dem Druck der Arzneimittelherstel-ler entstanden ist (House of Commons – Health Committee 2002: 9ff.). Akzeptanzprobleme resultieren weiterhin daher, dass NICE nicht die einzige Institution im NHS ist, die Richtlinien bzw. Empfehlungen abgibt – insbesondere zum Einsatz von Arz-neimitteln. Die Koordination mit etablierten Institutionen (beispielsweise „British National Formulary“ oder „The Drug and Therapeutics Bulletin“) ist mangelhaft, was mitunter zu widersprüchlichen Aussagen in Bezug auf den Einsatz von Arzneimitteln führt. In einer schriftlichen Befragung gaben 60 von 92 Direktoren regionaler Gesundheitsbehörden an, dass sie eine unzulässige Beeinflussung durch Interessengruppen vermuten und die Unab-hängigkeit von NICE grundsätzlich stark in Frage stellen (Davies/Littlejohns 2002). Damit ist festzustellen, dass trotz aller Bemühungen von NICE die Akzeptanz bei Leistungserbrin-gern, regionalen Gesundheitsbehörden und Patienten steigerungsfähig ist. Output-Perspektive
Hinsichtlich der Output-Perspektive werden im Folgenden die Auswirkungen der Leis-tungskonkretisierungen in bezug auf Allokation (Effizienz) und Distribution (Gerechtigkeit) sowie die Effektivität und Konsistenz der angewandten Verfahren betrachtet. Allokative Auswirkungen
Unter den Bedingungen von Ressourcenknappheit kommt der wirtschaftlichen Verwendung von Ressourcen herausragende Bedeutung zu. Das vorrangige Ziel aus gesundheitsökono-mischer Perspektive ist daher die Sicherstellung einer optimalen Allokation der zur Verfü-gung stehenden (knappen) Ressourcen. Gesundheitsökonomische Evidenz zur wirtschaftli-chen Mittelverwendung resultiert aus der Gegenüberstellung der zu erwartenden (direkten und indirekten) Kosten und dem zu prognostizierenden Nutzen (vgl. Tabelle 2). Wenn eine medizinische Leistung mit einer Alternative verglichen wird, kann das medizini- sche Ergebnis besser, gleich oder schlechter sein und die Kosten entweder höher, gleich o-der niedriger. Aus gesundheitspolitischer Sicht ist vor allem jener Typus medizinischer Technologie erwünscht, der medizinisch überlegen ist und zu einer Ressourceneinsparung führt. Diese Technologie dominiert die Alternative und ihrer Einführung wird nichts im Wege stehen. Auch bei gleichem Nutzen und niedrigeren Kosten oder bei höherem Nutzen und gleichen Kosten bestehen an der Wünschbarkeit der Leistung keine Zweifel (Schöffski et. al. 2000).22 Eine eindeutige Entscheidung ist auch für Leistungen zu treffen, deren Ressourcenaufwand größer ist und die gleichzeitig ein schlechteres Ergebnis als die Alternative aufweisen, bzw. solche, bei denen gleiche Kosten mit einem schlechteren Ergebnis oder höhere Kosten mit einem gleich guten Ergebnis einhergehen.23 Diese Art von Leistungen sind im Hinblick auf eine wirtschaftliche Mittelverwendung in jedem Falle unerwünscht. Tabelle 2: Entscheidungsregeln für eine allokativ optimale Mittelverwendung Legende: + = Technologie finanzieren, - = Technologie nicht finanzieren, -/+= Finanzierungsentscheidung der Technologie hängt vom Kosten-Nutzen-Verhältnis ab, 0 = neutrale Finanzierungsentscheidung. Differenzierter ist die Entscheidung für die Einführung einer Leistung, wenn sie ein besse-res medizinisches Ergebnis aufweist, aber ihre Kosten die der Alternative übersteigen bzw. wenn ein medizinisch schlechteres Ergebnis mit geringeren Kosten einhergeht.24 Die aus utilitaristischer Perspektive anzustrebende Entscheidung für oder gegen diese Leistung hängt davon ab, welche zusätzlichen Kosten die Gesellschaft für den zusätzlichen Nutzen in Kauf nehmen will. Eine kostengünstigere, aber medizinisch unterlegene Intervention wird häufig aus medizinischer Sicht abgelehnt. Doch hängt es aus (normativer) gesundheitsöko-nomischer Perspektive auch hier von dem Verhältnis zwischen Kosten und Nutzen ab, ob die Technologie eingeführt werden sollte oder nicht. Ist das medizinische Ergebnis nur im 22 In Tabelle 2 sind diese Leistungen rechts und oberhalb der von links oben nach rechts unten rei- 23 Entsprechende Leistungen finden sich in Tabelle 2 links und unterhalb der von links oben nach rechts unten führenden Hauptdiagonalen. 24 In Tabelle 2 sind diese Leistungen auf der Hauptdiagonalen von links oben nach rechts unten zu geringen Ausmaß schlechter als die Alternative, aber spart die neue Leistung erheblich Res-sourcen im Vergleich zur bestehenden Alternative, könnte eine solche Leistung zugelassen werden und dann die Wirtschaftlichkeit der Mittelverwendung erhöhen. Die Analyse der bisherigen Leistungsbewertungen hat ergeben, dass die Allokationsent-scheidungen in der Entscheidungspraxis von NICE in weiten Teilen dieser gesundheitsöko-nomischen Perspektive entsprechen. Insbesondere werden – anders als etwa in der Ent-scheidungspraxis des Bundesausschusses in Deutschland (Niebuhr et. al. 2003) – neue Leis-tungen mit geringerem Nutzen im Vergleich zu bestehenden Alternativen in den Leistungs-katalog aufgenommen, wenn sie deutlich niedrigere Kosten aufweisen.25 Allerdings wer-den neue Leistungen mit (geringem) höherem Nutzen im Vergleich zu bestehenden Alter-nativen in der Regel auch dann in den Leistungskatalog aufgenommen, wenn sie deutlich höhere Kosten aufweisen – in der Regel allerdings mit Einschränkungen in der Indikation und der Patientensubgruppe (vgl. Abbildung 2-4). In diesen Fällen optimiert die von NICE ausgesprochene Empfehlung die Allokation nicht umfassend in einem gesundheitsökono-mischen Sinne – offenbar auch, weil außerökonomische Kriterien (z.B. Gerechtigkeitsüber-legungen) in die Entscheidung einfließen. Einzuschränken sind alle Aussagen zur Berück-sichtigung der Kosteneffektivität allerdings insofern, als nur ungefähr die Hälfte der Ent-scheidungen in den Richtlinien auf der Basis von Informationen zur Kosteneffektivität der betreffenden Leistungen getroffen werden konnte. Distributive Auswirkungen
Im Hinblick auf die distributiven Auswirkungen ist insbesondere zu untersuchen, inwieweit NICE tatsächlich – wie zumindest in der deutschen Diskussion oftmals behauptet – als Ra-tionierungsbehörde wirkt und wie dieses Wirken zu bewerten ist. Unter Rationierung soll im Folgenden der Tatbestand verstanden werden, dass eine Gesundheitsleistung über das öffentliche Gesundheitssystem nicht gewährt wird, obwohl sie einen positiven Nutzen hat.26 Demgegenüber wollen wir den Ausschluss einer Leistung, die nachweislich keinen Nutzen hat, lediglich als Beitrag zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit, als Rationalisie- So hat NICE etwa eine Empfehlung zur ambulanten Hämodialyse ausgesprochen, obwohl keine robuste Evidenz zur klinischen Wirksamkeit im Vergleich zur Blutwäsche im stationären Bereich vorlag, die Kosteneffektivität des ambulanten Einsatzes aber überzeugte. Ein anderes Beispiel ist die Empfehlung zum Einsatz des spannungsfreien Vaginalbandes, das aufgrund der reduzierten Krankenhausaufenthalte kostengünstiger, dessen Nutzen aber insgesamt geringer als bei nicht-chirurgischen Verfahren ist. 26 Breyer und Kliemt unterscheiden beim Rationierungsbegriff danach, ob die durch das öffentliche System nicht finanzierten privaten Leistungen zugekauft werden können (in diesem Falle sprechen sie von „weicher“ Rationierung) oder ob der private Zukauf verboten ist (in diesem Falle sprechen sie von „harter“ Rationierung (Breyer/Kliemt 1994). Wir gehen in diesem Beitrag davon aus, dass Rationierung in der Regel immer „weich“ ist. Abgesehen von Ausnahmefällen wie der Transplanta-tion von solchen Organen, die von nicht verwandten Lebendspendern gewonnen werden, werden freiheitliche Gesellschaften zumindest den privaten Erwerb von Gesundheitsleistungen im In- und Ausland nicht beschränken können und wollen. rung bezeichnen. Es stellt sich nun die Frage, ob NICE in diesem Sinne rationiert und wel- che Verteilungseffekte damit ggf. einhergehen. NICE begründet den Ausschluss von Leistungen, bzw. die Einschränkung von Leistungen auf bestimmte Bevölkerungsgruppen oder bestimmte Indikationen jeweils damit, dass auf der Grundlage der vorliegenden Evidenz kein Zusatznutzen für diese Leistungen bzw. Be-völkerungsgruppen bzw. Indikationen feststellbar ist. Ist diese Begründung belastbar, liegt keine Rationierung in dem vorstehend definierten Sinn vor, vielmehr handelt es sich um Rationalisierung. Die „Reputation“ von NICE als „Rationierungsbehörde“ wäre somit nicht gerechtfertigt. Unsere Analyse in Abschnitt 2.2 hat allerdings gezeigt, dass NICE in einzelnen Fällen auch negative Empfehlungen für solche Leistungen ausgesprochen hat, bei denen die Studienlage zwar eine ungünstige Kosten-Nutzen-Relation aber gleichwohl einen zusätzlichen Nutzen ergab.27 Eine solche Entscheidung optimiert aus allokativer Sicht – wie beschrieben – die Wirtschaftlichkeit der Mittelverwendung insoweit, als für ein bestehendes Budget dann kostengünstigere Leistungen erbracht werden können, die „mehr Gesundheit“ (z.B. mehr QALYs) ermöglichen. Allerdings wird die neue, teure Leistung – die immerhin einen zu-sätzlichen medizinischen Nutzen aufweist – dann auf dem privaten Gesundheitsmarkt an-geboten, auf dem alleine die Kaufkraft über die Nachfrage entscheidet. Der Zugang zu die-ser Leistung ist damit ungleich verteilt; die Rationierungsentscheidung von NICE hätte notwendigerweise – wie jede Form von Rationierung – distributive Implikationen.28 Über diese direkten Verteilungswirkungen hinaus ergeben sich indirekte Wirkungen von Entscheidungen des NICE, wenn Leistungen durch eine Richtlinie von NICE positiv bewer-tet werden, diese aber unter der Rahmenbedingung fixer Budgets im NHS auf regionaler Ebene nicht erbracht werden können und der Zugang zu diesen Leistungen ebenfalls nur im Rahmen des Abschlusses privater Krankenversicherungen oder durch Selbstzahlung mög-lich wäre (Hutton/Maynard 2000). Ebenfalls ergeben sich Verteilungswirkungen, wenn aufgrund der fixen Budgets andere, ebenfalls positiven Nutzen stiftende, Leistungen ver-drängt werden, die ihrerseits dann privat zugekauft werden müssen, wenn der Patient sie erhalten möchte. Werden aus diesem Grund sogar solche „alten“ Leistungen rationiert, die eine höhere Kosteneffektivität aufweisen, aber von NICE (noch) nicht bewertet wurden, ist das Ergebnis auch aus allokativer Sicht höchst problematisch. Mögliche verteilungspolitische Probleme können sich auch dann ergeben, wenn NICE sich bei seinen Entscheidungen nicht nur an der Kosten-Nutzen-Relation, sondern auch an ande- Bekanntestes Beispiel für eine solche Empfehlung dürfte die Bewertung von Beta-Interferonen für die Behandlung von Multipler Sklerose sein. NICE stellte hohe Zusatzkosten und einen sehr gerin-gen Zusatznutzen fest und lehnte die Therapie daher ab. Die Kosten pro QALY wurden dabei auf 35.000 bis 104.000 £ geschätzt. 28 Vgl. Schmidt 2004a und Schmidt 2004b zur Bewertung derartiger Ungleichheiten aus gerechtig- ren Kriterien orientiert – wir haben oben gesehen, dass zwar eine günstige Kosten-Effek-tivität die Chancen für eine positive Bewertung und eine negative Kosten-Effektivität die Chancen für eine negative Bewertung erhöht, dieser Zusammenhang aber keinesfalls linear ist. Werden andere, möglicherweise implizit und intransparent bleibende, Kriterien der Ent-scheidung zugrunde gelegt, kann das Ergebnis als verteilungspolitisch willkürlich empfun-den werden – in den Worten eines Vertreters von Leistungserbringern im NHS: “In the pursuit of national equity … there is a real danger of producing an even more sinis-ter form of rationing than postcode prescribing – based on whether or not a patient has a ‘politically correct’ disease” (House of Commons - Health Committee 2002: 24).29 Konsistenz und Effektivität der Verfahren
Positiv ist – insbesondere im Vergleich zu Deutschland (vgl. Niebuhr et. al. 2003) – zu be-werten, dass NICE für sämtliche Leistungen einschließlich Arzneimitteln sektorübergrei-fend einheitliche Verfahren und Kriterien anwendet. Damit ist sichergestellt, dass etwa der Entwicklung sektorübergreifender Versorgungsformen keine institutionell bedingten Hin-dernisse entgegengestellt und die gleichen Leistungen in unterschiedlichen Sektoren nicht unterschiedlich bewertet werden. Weniger positiv ist die Implementierung der NICE-Richtlinien zu bewerten. Obgleich die Richtlinien im Prinzip landesweit gelten – und die Überwindung von regionalen Ungleich-heiten in der Gewährung von Leistungen ein wesentlicher Grund für die Errichtung von NICE gewesen ist – werden die Richtlinien regional nicht immer einheitlich umgesetzt. Jede Richtlinie von NICE weist daraufhin, dass die Therapiefreiheit des Arztes nicht be-schränkt werden soll. Will der Arzt aber die von NICE positiv bewertete Leistung für die spezifizierte Patientenpopulation und die spezifizierte Indikation anwenden, muss die Fi-nanzierung hierfür von den regionalen Gesundheitsbehörden „normalerweise“ zur Verfü-gung gestellt werden (House of Commons - Health Committee 2002). Die Verpflichtung zur Bereitstellung der von NICE positiv bewertenden Leistungen wird durch diesen Passus rela-tiviert. Beispielsweise ist unklar, ob Ressourcenknappheit als ein besonderer Umstand an-zusehen ist, der zu Ausnahmetatbeständen und damit zu einer Unter-Implementation der von NICE positiv bewerteten Leistungen führen kann. Wie schon oben ausgeführt, haben sowohl NICE als Institution als auch die von NICE ver-öffentlichten Richtlinien mit Akzeptanzproblemen bei den Akteuren auf regionaler Ebene zu kämpfen. Kombiniert mit einer unzureichenden Kontrolle der Umsetzung der Richtli-nien führen diese Akzeptanzprobleme auf der einen Seite dazu, dass im Jahr 2001 in etwa 20 Prozent der Regionen keine systematischen Konzepte zur Umsetzung der NICE- 29 Unter „postcode prescribing“ ist die Praxis im NHS zu verstehen, wonach die Wahrscheinlichkeit, eine bestimmte Leistung verordnet zu bekommen, hohen regionalen Schwankungen unterliegt. NICE wurde nicht zuletzt gegründet, um diese regionalen Schwankungen zu nivellieren. Richtlinien vorhanden waren – im Vergleich zu 40 Prozent ein Jahr zuvor.30 Auf der ande-ren Seite werden die Richtlinien sogar „überimplementiert“, indem Leistungen weit über die von NICE festgelegten Indikationen bzw. Patientengruppen hinaus gewährt werden (House of Commons - Health Committee 2002). Die Effektivität des Verfahrens zur Konkretisierung des Leistungsanspruchs der Versicher-ten wird dadurch weiter relativiert, dass nur ein Teil der priorisierten Leistungen bisher von NICE bewertet worden ist – und die priorisierten Leistungen nur einen kleinen Teil der Lei-stungen insgesamt ausmachen. Einerseits ist zwar der Prozess der Priorisierung durch das Gesundheitsministerium vergleichsweise transparent, und die Kriterien für die Priorisierung sind nachvollziehbar. Andererseits wird von NICE nur ein Teil des Leistungsgeschehens bewertet – was allerdings der Gesetzgeber bei der Einrichtung von NICE auch so beabsich-tigt hat. Im Hinblick auf die Effektivität des Bewertungsverfahrens ist positiv zu bewerten, dass NICE im Zentrum eines weit verzweigten Netzwerks auf nicht unerhebliche externe Res-sourcen zugreifen und die schon vor der Gründung von NICE insbesondere an den Hoch-schulen entwickelte HTA-Kompetenz nutzen kann. Bereits jetzt ist die Dauer des Bewer-tungsverfahrens mit 12 bis 14 Monaten vergleichsweise kurz – auch wenn dieser Zeitraum von der Industrie noch immer als zu lang und innovationsfeindlich kritisiert wird. Eine von der Industrie geforderte weitere Verkürzung des Bewertungsprozesses würde jedoch den schon jetzt deutlich spürbaren Zeitdruck und schon jetzt wahrnehmbare Qualitätsdefizite verstärken (House of Commons - Health Committee 2002). Die differenzierte Analyse und Bewertung des National Institute for Clinical Excellence (NICE) zeigt, dass – zumindest nach den hier zugrunde gelegten Beurteilungskriterien – die von NICE angewendeten Verfahren und Kriterien zur Konkretisierung des Leistungskata-logs einen auch im internationalen Vergleich (vgl. Niebuhr et. al. 2004) hohen Legitimitäts-grad aufweisen. Die angewandten Verfahren überzeugen durch hohe Transparenz und brei-te Partizipation für alle von der Bewertung einer medizinischen Leistung Betroffenen. Die letztendliche Entscheidung wird in einem Gremium getroffen, in dem nicht nur Leistungs-erbringer und Leistungsfinanzierer repräsentiert sind, sondern auch Patientengruppen und (Arzneimittel-)Hersteller. Hohe Transparenz und breite Repräsentanz bieten gute Voraus-setzungen für eine hohe Akzeptanz der von NICE getroffenen Entscheidungen. Allerdings wurden die Glaubwürdigkeit und damit auch die Akzeptanz von NICE bei Leistungserbrin-gern, Patienten und NHS-Verantwortlichen beschädigt, weil im Zusammenhang mit der Vgl. http://www.nice.org.uk/Docref.asp?d=27327. Innerhalb eines Jahres wurde die Quote, der Regionen, in denen keine systematische Umsetzung stattfindet, damit immerhin halbiert. Ob dies eine zunehmende Akzeptanz indiziert, kann zurzeit aber noch nicht beurteilt werden. Empfehlung eines Grippemittels der Eindruck des „Einknickens“ unter dem Druck der Arz-neimittelhersteller entstanden war. NICE hat für die Leistungsbewertungen bislang nicht durchgehend Informationen zur Kos-teneffektivität verwenden können. Wenn diese Informationen vorliegen, spielen sie bei der Entscheidungsfindung eine Rolle – ohne dass Kosteneffektivität das einzige Entschei-dungskriterium darstellt, vielmehr werden auch andere Kriterien, z.B. Gerechtigkeitsüber-legungen mit einbezogen. Zieht NICE ausschließlich die medizinische Evidenz als Ent-scheidungskriterium heran, ist dies aus gesundheitsökonomischer Sicht unbefriedigend, aber der (noch) nicht optimalen Datenlage in Entscheidungsprozessen geschuldet. Insge-samt kann NICE damit das Potenzial im Hinblick auf eine wirtschaftlich optimale Mittel-verwendung in der Gesundheitsversorgung nur unvollständig ausschöpfen. Insoweit Leis-tungen ausgeschlossen werden, die einen zusätzlichen Nutzen haben, führen die Empfeh-lungen von NICE zu Rationierung. Da die Bedeutung der Kosteneffektivität nicht bei allen Entscheidungen gleich hoch ist, wird NICE teilweise verteilungspolitische Willkür vorge-worfen (so. House of Commons – Health Committee 2002: 24). In jedem Fall wird an der Entscheidungspraxis von NICE aber auch der generelle Trade-Off zwischen allokativ opti-malen Entscheidungen und der Vermeidung von distributiven Konsequenzen deutlich. Die Effektivität von NICE ist insofern zu relativieren, als dass bislang nur ein Teil der prio-risierten Leistungen tatsächlich bewertet werden konnte – obgleich der Bewertungsprozess vergleichsweise zügig abläuft. Nicht unproblematisch ist darüber hinaus die – von NICE allerdings nicht direkt beeinflussbare – Implementierung der Entscheidungen sowie deren Auswirkungen vor dem Hintergrund fixer Budgets auf regionaler Ebene. Abschließend lässt sich damit feststellen, dass NICE keinesfalls primär als negatives Bei-spiel eines „staatmedizinischen Rationierungsinstruments“ zu bewerten ist: Schon rein quantitativ sind vollständige Leistungsausschlüsse sehr selten. Dominierend ist dagegen die in Bezug auf Indikationen und Patientengruppen eingeschränkte Empfehlung, die von NICE mit mangelnder medizinischer Wirksamkeit begründet wird. Rationierung spielt demnach in der Selbstwahrnehmung von NICE keine Rolle. Allerdings hat unsere Analyse der Ent-scheidungen gezeigt, dass Kosteneffektivität sehr wohl ein guter Prädiktor für die Entschei-dungen von NICE ist. Methoden mit niedriger Kosteneffektivität werden sehr viel seltener empfohlen als solche mit hoher Kosteneffektivität. Dies steht allerdings im Einklang mit den Vorgaben einer utilitaristisch geprägten normativen gesundheitsökonomischen Theorie. Insofern damit die Kosteneffektivität gesteigert wird, ergeben sich rationierende Wirkun-gen. Immer noch gilt aber, dass die Rationierung im britischen NHS vor allem durch die gegebenen Budgets erfolgt und nicht durch die Entscheidungen von NICE. Eingeschränkt wird allerdings die Therapiefreiheit der Ärzte. Zwar können sie im Einzelfall von den Emp-fehlungen von NICE abweichen, allerdings muss dies so begründet und dokumentiert wer-den, dass es einer Kontrolle standhält. Damit werden starke Anreize für den einzelnen Arzt gesetzt, den Empfehlungen von NICE zu folgen. Eine in diesem Sinne „rationierende“ Wir-kung ist einer evidenzbasierten Medizin allerdings grundsätzlich zu Eigen. Im Vergleich zur derzeitigen Leistungsbewertung in der GKV (Greß et al. 2004) haben die von NICE angewandten Verfahren und Kriterien eine Reihe von Vorteilen. Dazu zählen vor allem die sektorübergreifende Bewertung von Leistungen einschließlich von Arzneimitteln, die höhere Transparenz und breitere Repräsentanz des angewandten Verfahrens und die stärkere Berücksichtigung von Kosteneffektivität bei der Bewertung von medizinischen Leistungen. Gleichzeitig zeigen die Erfahrungen von NICE aber auch, dass eine evidenzba-sierte Bewertung insbesondere der Kosteneffektivität medizinischer Leistungen hohe An-forderung an die methodische Qualität entsprechender Studien stellen muss, die Implemen-tierung der Entscheidungen problematisch sein kann und letztlich immer ein Spannungs-verhältnis zwischen stärkerer Berücksichtigung der Kosteneffektivität und distributiven Zielen entsteht. Anhang: Von NICE bewertete Leistungen (März 2000 - Dezember 2003)
NR. MONAT/ LEISTUNG
EMPFEHLUNG
IMPACT/NHS
EFFEKTIVITÄT
Inkrementelle Kosten pro Geschätzte jährliche gener Routineeinsatz „very difficult to esti- Liquid-basierte Cyto- Nein: allgemeine
Inkrementelle Kosten pro Vermutlich kosten- Implantierbare kardi- Ja, für primäre und bei speziellen Patien- £ 26.000 bis £ 31.000 pro Jahr bei sekundärer Prävention Mio. durch weniger Inkrementelle Kosten pro Mehrkosten: rd. £ 34 Methylphenidate (Ri- Ja, als Teil eines um- Inkrementelle Kosten pro Höchstens Anstieg talin) bei ADHD Inkrementelle Kosten pro Kosten der Medika- auf rezidive und dop- £ 50.000 allgemein; ver- Netto-Kosten können mutlich weniger aufgrund nicht genau geschätzt Voraussetzungen für schwanken von £ 0 bis Inkrementelle Kosten pro Mehrkosten maximal Pioglitazone bei Typ Ja, als Alternative zu Keine Daten Studien von £ 10.400 bis ten Jahr; längerfris- Inkrementelle Kosten pro Inkrementelle Kosten gewonnenem Lebensjahr: ca. £ 1 Mio. pro Jahr Inkrementelle Kosten pro Gesamtkosten kön- xel, Gemcitabine und Paclitaxel und Vino- (ungenügende Datenlage) Umstieg auf die mäßige Verwendung tivität in der Hoch- bei Unverträglichkeit £ 2.700 im Vergleich zum ca. £ 6000 bis £ 9000 Nein, aber Weiterbe- Geschätztes mittleres ge- Glatiramer Acetat bei handlung der Patien- wonnenes QALY nach 20 zum gegenwärtigen in klinischen Studien £ 35.000 und £ 104.000 Nein, Raltitrexed nur inkrementelle Kosten von Inkrementelle Kosten pro In der Kombinations- fisch in Kombination QALY: £ 37.500 (aus der therapie annähernd mit Paclitaxel und als Herstellerstudie, wahr- fisch für Erwachsene, liche Unterschiede auf; ohne längerfristige Daten; möglich; total: ca. Inhalatoren für ältere Ja. Empfehlung für Zentrale Schätzung: unter Mehrkosten von £ 20 Inkrementelle Kosten pro Ungefähr £ 4 Mio. tale/ neonatale Verlust ist dieser Empfehlung den): für Erstgebärende: £ 7.600 und für alle Ja, für Kinder, die 1. ICER als erwarteter in- Vergleich der Ergebnisse Zunahme der Medi- M-M-Hüften sind ähnlich Mehrkosten von £ 5 ventionelle THR und wer-den voraussichtlich länger billiger als vergleichbares möglich, zusätzliche Ja, geändert hinsicht- Keine neuen Daten Glycoprotein IIb/IIIa lich der Bestimmung Ja, Wahlmöglichkeit Inkrementelle Kosten pro Keine zusätzlichen QALY für Patienten unter Kosten; positive Methode zum Legen teuer als eine vergleichba- senkendes Ergebnis, Diabetes und in Aus- £ 32.500 pro QALY für nahmefällen für Dia- schlechteste Fallannahme: £ 16.000 pro QALY für Typ1 und £ 72.000 pro QALY für Typ 2 Gesamtergebnis: weniger Nutzen, aber billiger Inkrementelle Kosten pro Schätzung schwierig, gewonnenem Lebensjahr: der Anstieg der ge- Zanamivir (Relenza), Oseltamivir hinsicht- Studien erheblich, sehr fristige Behandlungs- eigneten Patienten- möglichkeit (anderen gruppen genauso kosten- ven Bedingungen bei bsp. schwerer/lebens-bedrohlicher Depres-sion Solche verhaltenssteuern- Kurz- bis mittelfris- in Bezug auf einen relativ (Aufbau von Diabe- teneffektiv sein, wenn sie etc.) mit einem Ma- Ja, als Option für die Ergebnisse der Kosten- Ja, aber noch stärkere Daten der Hersteller nicht Durch die weitere (Glitazone bei Typ 2- ne Einschränkung in Glitazone in der Erstbe- handlung wenig kostenef- als die angenomme- ICER bewegt sich für die- Zusätzliche Kosten einer Chemotherapie nenem QALY; (CHOP); im An- gewonnenem Lebensjahr und £ 10.500 pro gewon-nenem QALY me: kosteneffektiver, weil über Anstieg oder sodium als Optionen sie Einweisungen und Nein für Amantadine Insgesamt erheblich we- Nein für Oseltamivir niger kosteneffektiv als dikamentöse Grippe- für Personen unter bestimmte Patienten- (nicht zugelassen); für populationen gefährdete und geimpfte Personen £ 29.000 (für nichtgeimpfte £ 7.000) (beide zugelassen); für Personen in Pflegeheimen £ 3.000 (zugelassen); Kosten pro QALY wäh-rend einer Epidemie mit Oseltamivir für nichtge-impfte, gefährdete Perso-nen: £ 80.000 (Geimpfte £ 60.000) (nicht zugelas-sen), für nichtgeimpfte Personen in Pflegeheimen £ 12.000 (nicht zugelas-sen) ICER für die zugelassene Mehrkosten von £ 4 Patientengruppe £ 26.000 Mio. im ersten Jahr, (CNV) beschränkt und in klinischen Studien LBC-Tests möglicherwei- Langsame Kompen- ternative (Pap-Tests) kos- laufende Kosten der men; weitere Evalua- serter Sensitivität, Reduk- ähnlich der Alterna-tion empfehlenswert tion falscher Befunde so- für LBC-Screen-ing alle drei Jahre gegenüber dem Pap-Screening alle 5 Jah-re) Imatinib für die Erst- Ja, im Erwachsenen- ten Alternative (Interferon £ 6 Mio. im ersten delphia-Chromosom, alpha): rund £ 26000 pro Phasen Teilnahme an fortgeschrittene Phasen narintervention (PCI) PCI mit Stents ist kosten- dikamentös be- £ 4 Mio. durch die Reduzierung von BMS-Stents schen Studien und Anzahl der Studien-teilnehmer Insgesamt ist SPECT nur Für die erforderli- kosteneffektiver bei einer chen zusätzlichen niedrigeren Prävalenzrate SPECT-Scanner £ 18 Literatur
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