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Psychopharmaka - Fluch oder Segen?
Oft wird aus unterschiedlichen Gründen von Menschen die Behauptung aufgestellt, dass der LVPE Saar bzw. die organisierte Psychiatrie-Selbsthilfe in Deutschland grundsätzlich gegen Psychopharmaka sei. Richtig ist, dass die Einstellung der Mitglieder des LVPE Saar e.V. gegenüber Psychopharmaka sehr unterschiedlich ist und dies sich in den demokratisch gewählten Strukturen des Verbands widerspiegelt. Einig sind sich alle im LVPE Saar, dass die Entscheidung jedes Einzelnen, in seelischen Krisen Psychopharmaka zu sich zu nehmen oder nicht, eine Sache ist, die man nach Abwägen aller Chancen und Risiken frei für sich selbst entscheiden muss. Die Entscheidungen der einzelnen Mitglieder decken dabei eine Bandbreite ab von lebenslanger, langfristiger, mittelfristiger, (zur Überwindung akuter Krisen) kurzfristiger Psychopharmakaeinnahme bis hin zur prinzipiellen Ablehnung eines eventuellen eigenen Klinikeinweisung nach sich ziehende Konfliktsituationen zu überstehen, finden m. E. alle LVPE Saar-Mitglieder eine möglichst niedrig dosierte, möglichst kurzfristige, selbstbestimmte Entscheidung zu Psychopharmakaeinnahme sinnvoll. Wichtig ist dabei die Selbstermächtigung, damit Menschen mit seelischen Problemen ExpertInnen in eigener Sache werden, und das Wissen um sinnvolle, heilende Alternativen zur (ausschließlich) medikamentösen Behandlung wiederkehrender seelischer Krisen.
Meine persönliche Einstellung zu Psychopharmaka wurde geprägt durch eine erste Klinikeinweisung (Sonnenberg Saarbrücken, 1989) im Verlauf einer schweren Sinn- und Lebenskrise gegen Ende meines Hochschulstudiums. Sofortige hohe Dosen von Haldol verrückten damals - für mich völlig unvorbereitet - mein Bewußtsein und mein Körpergefühl. Meine Mutter, seinerzeit bar jeden Verdachts "antipsychiatrischer" Einstellung, fasste zusammen: "Wenn er nicht schon vorher verrückt war, dann wird er es auf jeden Fall hier." Danach machte ich eine 5wöchige stationäre Psychotherapie (analytisch orientierte Gruppen- und Einzelsitzungen, Märchendrama etc.), um mich mit meinen Problemen auseinanderzusetzen. 2 oder 3 Wochen später erfolgte 1989 eine erste Zwangseinweisung als "paranoid halluzinatorisch psychotisch".
Anfang bzw. Mitte der 90er Jahre beschäftigte ich mich in 2 analytisch orientierten Gesprächstherapien mit meinen Traumata und meiner inneren Zerrissenheit, die durch meine Biographie, durch die gesellschaftlichen Zusammenhänge und damit verbundenen Langzeitmedikation mit Psychopharmaka wäre die Aufarbeitung von Gefühlen in dieser Form nicht möglich gewesen. Regelmäßig wurde der Prozess jedoch unterbrochen durch Zwangseinweisungen (93,94,95), während derer ich unter Zwang und mit Gewalt(androhung) Psychopharmaka/Neuroleptika nehmen musste.
Zwischen 1995 und 1997 ließ ich mich auf Anraten und Druck nahezu meines gesamten Umfeldes auf eine Pharmakotherapie (Lithium kombiniert mit Ciatyl-Depotspritzen) ein, diese Zeit ist mir als eine mittelmäßige, farblose, graue Zeit in Erinnerung. Als ich Anfang 1997 alles abgesetzt hatte, folgten ohne Medikamente "Psychose"erlebnisse, deren Inhalte mir später halfen, meine Probleme mit dem Sinn des Lebens anzugehen und aufzudecken, was mich 1997 jedoch dreimal, besonders zum Leidwesen meiner Familie, in die Psychiatrie führte.
Seit Anfang 1998 ließ ich mir Fluanxol spritzen, was ein niedergelassener Psychiater zur Bedingung machte, um "ambulant betreutes Wohnen" zu befürworten, wo ich glücklicherweise einen Schutzraum zum Gesunden fand. 1999 um die totale Sonnenfinsternis in Südwestdeutschland herum war ich während eines "Urlaubs" in Norddeutschland dort noch einmal 3 Wochen zwangsuntergebracht. Danach bat ich um psychiatrische Behandlung in der Ambulanz der Saarbrücker Sonnenberg-Kliniken, insbesondere, um mich über einen Behandlungsvertrag gegen psychiatrischen Zwang ebenda durch Verhandlung zu schützen, da mich meine langjährige konfrontative Strategie gegenüber der (Zwangs)Psychiatrie Ursprungsproblematik abgelenkt hatte. Ich ließ mich auf eine Neuroleptikatherapie (Zyprexa 5mg/Tag) ein, die ich nach 2jährigem sehr vorsichtigem Ausschleichen (halbieren und vierteln von Tabletten mittels Medikamentenschneidern, aus der Apotheke) Ende 2002 beendete. Den erfolgreichen Umgang mit einem niedrigpotenten Neuroleptikum (Neurocil) als Kurzzeit("bedarfs")medikament gegen unerwünschte Bewusstseinsveränderungen, die Klinikaufenthalte nach sich ziehen könnten, habe ich im Jahr 2000 durch Matthias Seibt, Psychopharmaka-Beratung des Bundesverbands Psychiatrie-Erfahrener, gelernt.
Mit meiner Biographie in ihrem gesellschaftlichen Umfeld und meinen Fragen zum Sinn des Lebens habe ich mich seit 1997 viel beschäftigt, viel dazu gelesen, viel gelernt, erfahren und mich mit einigen anderen ausgetauscht. Kontinuität in meinem Leben, auch durch Schutz vor ungewollter psychiatrischer Behandlung, z.B. durch selbstbestimmten Umgang mit Psychopharmaka, war dabei hilfreich.
Meine persönliche Zusammenfassung: der sinnvolle Umgang mit Psychopharmaka ist oft hilfreich, um mit psychischen und psychiatrisch diagnostizierten Problemen umzugehen, sich zu stabilisieren und unerwünschte Klinikaufenthalte zu vermeiden. Psychopharmaka bekämpfen jedoch zumeist die Symptome, nicht die Ursachen wiederkehrender seelischer Krisen. Die freie Entscheidung, informiert über Risiken und Nebenwirkungen unterdrücken, ist genauso respektabel wie der schwierige Weg, sich - ohne oder mit Zuhilfenahme von Medikamenten auf kurze Zeit - auf die Suche nach möglichen Ursachen, deren Aufdeckung und Verarbeitung hin zur Gesundung zu begeben.

Source: http://mut-zum-anderssein.de/PDF/PsychophFluchSegen.pdf

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